Hermien Stellmacher: Die Katze im Lavendelfeld. Roman, Berlin 2019, Insel-Verlag, ISBN 978-3-458-36407-8, 299 Seiten, Softcover, Format: 11,8 x 2,8 x 18,8 cm, Buch: EUR 10,00 (D), EUR 10,30 (A), Kindle: EUR 9,99, auch als Hörbuch lieferbar.
Der Lebenslauf von Alice Laurent, Mitte 40, hat ein paar interessante Schlenker aufzuweisen: Sie hat Biologie studiert, eine Ausbildung zur Gärtnerin gemacht und lebt nun vom Schreiben über Kräuter und übers Kochen.
Von Straßburg hat es sie der Liebe wegen zunächst nach Paris verschlagen und dann die Heimat ihres Lebensgefährten Léon, eines Journalisten: nach Beaulieu, einem kleinen Ort in der Provence. Dort suchen die beiden jetzt ein Haus. Die Mietwohnung, die sie zusammen mit ihren zwei Katzen bewohnen, ist keine Dauerlösung.
Alices Wahlfamilie
Alice hätte es nicht für möglich gehalten, aber sie fühlt sich heimisch in der ländlichen Gemeinde und hat in den Freunden ihres Partners eine Art Ersatzfamilie gefunden:
- Da ist die begeisterte Hobbyköchin Jeanine Bressier, 78, die immer noch ihrer großen Liebe zu Jaques nachtrauert – und ihrer Arbeit im Hotel Le Tilleul, das längst zu einem „Lost Place“ geworden ist. Jeanine lebt hauptsächlich in der Vergangenheit. In in letzter Zeit macht ihr das Gedächtnis zu schaffen. Sie wird erschreckend vergesslich.
- Und da ist George Fabres, Léons Freund aus Kindertagen, der endlich seinen ungeliebten Hauptberuf als Psychotherapeut an den Nagel gehängt und sich seinen Kindheitstraum von einem eigenen Restaurant erfüllt hat.
- Zu Alices Wahlfamilie gehören zudem noch die junge Postbotin Josephine, die bei Männern kein glückliches Händchen hat,
- die temperamentvolle Kellnerin Marie
- und der Niederländer Willem, der eigentlich nur auf der Durchreise war, aber in Beaulieu hängen geblieben ist. Nun, einen so liebenswerten und vielseitig begabten Menschen kann man im Freundeskreis immer gebrauchen. Nur in Beziehungsangelegenheiten benötigt er offenbar Nachhilfe.
- Wer gerne dazugehören würde, aber keinen Fuß in den inneren Zirkel bekommt, ist der Notar Alain Bardou. Zu aufdringlich umwirbt er die längst vergebene Alice und zu undurchsichtig sind seine Geschäfte.
Alices Haussuche gestaltet sich schwierig. Makler Dumont, der gern in Reimen spricht, ist eher lustig als hilfreich. Dass Alice alle Objekte alleine besichtigt, weil ihr Lebenspartner verhindert ist – wir begegnen Léon über weite Strecken nur am Telefon – macht die Sache nicht leichter. Aber Journalisten sind eben viel unterwegs.
Die Katzen finden Alices Traumhaus
Als Alices Katzen die Flucht ergreifen, weil sie den Neuzugang, Glückskätzchen Trouvé, das in einem Lavendelfeld aufgefunden wurde, nicht mögen, stolpert die Haussucherin über die Immobilie ihrer Träume: das verlassene Hotel Le Tilluel, in dem sich ihre Katzen stilsicher einquartiert haben. Fortan pilgert Alice jeden Tag dort hin, um ihren Tieren Futter zu bringen, und verliebt sich mehr und mehr in das verwilderte Anwesen. Auch Jeanine geistert dort herum, hört alte Chansons und träumt von längst vergangenen glücklichen Tagen.
Fragen kostet nichts, denkt Alice und macht mit viel Mühe den Besitzer des Hotels ausfindig. Vielleicht liegt der Preis ja doch in ihrem Budget, weil das Objekt schon so lange leer steht.
Hotelbesitzer Henri Roux erweist sich als bescheidener, etwas hilfloser alter Herr, der das Geld aus dem Immobilienverkauf offensichtlich gut gebrauchen könnte. Doch er schafft es einfach nicht, sich konkret zu Alices Kaufabsicht zu äußern. Zu einem zweiten Gespräch kommt es nicht. Monsieur Roux verschwindet!
Der Hauseigentümer ist verschwunden!
Pech, könnte sich Alice jetzt schulterzuckend sagen, und sich in aller Ruhe nach einem anderen Objekt umsehen. Doch nun überschlagen sich die Ereignisse in ihrer Wahlfamilie. Plötzlich häufen sich Probleme, die auf einen Schlag gelöst wären, wenn sie nur das Hotel kaufen könnten. Doch dazu brauchen sie zwingend Henri Roux, der einfach nicht zu erreichen ist.
Was ist dem alten Herrn zugestoßen? Und wer brockt eigentlich Alice und ihren Freunden all die Schwierigkeiten ein, die dieses überstürzte Handeln überhaupt erst notwendig machen? Aus welchem Grund? Das kann doch alles kein Zufall sein …!
Hermien Stellmacher beschreibt die Landschaft, die Häuser und die Gärten so, dass man sie zu sehen, zu fühlen und riechen meint und im Geist die Grillen zirpen hört. Und wenn sie erzählt, was Georges und Jeanine kochen, bekommt man Hunger! (Rezepte im Anhang hätten wir auch gerne akzeptiert.)
Romantisch und tragisch zugleich
Die Geschichte vom ehemaligen Zimmermädchen Jeanine ist romantisch und tragisch zugleich. Und die von Alice ebenfalls. Der Leser fragt sich, was aus Jeanines Liebhaber Jacques geworden ist, ja, ob es ihn überhaupt gegeben hat oder ob er nur in Jeanines Phantasie existiert. Bei ihr verschwimmen die Grenzen immer mehr. Was zur zweiten Frage führt: Wie lange sie es noch schaffen wird, ihren Alltag selbstständig zu meistern.
Dass in Alices Leben nicht alles so ist, wie sie es die Außenwelt glauben lassen möchte, ahnen wir ziemlich bald.
Aber was ist geschehen? Müsste nicht Georges aufgrund seiner Erfahrung als Therapeut merken, dass Alice ein Ereignis aus der Vergangenheit noch nicht verarbeitet hat? Ungern sähen wir, wenn es ihr ebenso erginge wie ihrer Freundin Jeanine, die nur noch in ihrer Erinnerung glücklich ist.
Das einzig Positive, das Alice aus ihrer schlimmen Zeit geblieben ist, ist ihre Gelassenheit angesichts alltäglicher Probleme. Sie kennt nun einen absoluten Negativ-Punkt, an dem sie alle aktuellen und künftigen Widrigkeiten misst: „Ist es schlimmer als das? Nein? Dann kriegen wir es irgendwie hin.“ Das ist so. Aber für diese Coolness zahlt man einen sehr hohen Preis.
Ernsthaft – mit komischen Momenten
Ein Gegengewicht zu den ernsten Themen des Romans – Verlust, Krankheit, enttäuschte Erwartungen -, bieten die humorvollen Momente, für die oft Willem sorgt. Wie dieser „Hans Dampf in allen Gassen“ eine Horde unkultivierter Gäste in Georges Restaurant zur Räson bringt, das ist schon ganz großes Kino! Und auch Alices Arbeit an einer Interview-Reihe hat ihre komischen Momente.
Am Schluss können sich nicht alle Schwierigkeiten in Wohlgefallen auflösen. Dazu ist die Geschichte zu nah am wahren Leben. Aber mit guten Freunden, einer Portion Beharrlichkeit, einem Quäntchen Glück und der Bereitschaft, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und etwas Neues zu beginnen, kommt doch erstaunlich vieles wieder ins Lot. Und so ist DIE KATZE IM LAVENDELFELD nicht nur eine spannend und unterhaltsam erzählte Geschichte, die man mit Freude liest, sondern sie macht einem auch Mut.
Die Autorin
Hermien Stellmacher, geboren 1959, wuchs in Amsterdam auf. Im Alter von 15 Jahren zog sie nach Deutschland. Sie illustrierte zahlreiche Kinder- und Jugendbücher. Seit einigen Jahren schreibt sie hauptsächlich für Erwachsene, zum Teil unter dem Pseudonym Fanny Wagner. Wenn sie nicht gerade in der Provence weilt, lebt sie mit ihrem Mann und zwei Katern in einem kleinen Dorf in der Fränkischen Schweiz.