I.L. Callis: Im Jahr der Finsternis. Thriller, Köln 2019, Emons-Verlag, ISBN 978-3-7408-0582-1, Hardcover mit Schutzumschlag und Lesebändchen, 447 Seiten, Format: 14,6 x 4 x 22,1 cm, Buch: EUR 22,00, Kindle: EUR 9,49.
„Kennen Sie diese Leute?“ Markgotts Tonfall lag irgendwo zwischen Mitleid und Spott.
„Ich verkehre nicht in rechtsextremen Kreisen.“
„Das kann man nie wissen“, sagte Markgott. „Es bereitet sich in Europa etwas vor, das mir Sorgen macht, Ich fürchte, wir haben uns zu lange an den Gedanken gewöhnt, dass die Demokratie allen anderen Staatsformen überlegen ist und vor allem – dass sie selbstverständlich ist. Und wir gehen davon aus, dass alle unsere Meinung teilen.“ (Seite 143)
Die französische Pressefotografin Simone Colbert hat in ihrem Berufsleben mehr Elend und Grausamkeiten gesehen als sie psychisch verkraften kann. Ihre Ehe mit dem Rechtsanwalt Hans Hellberg scheitert, ihr gemeinsamer Sohn Viktor wächst beim Vater in Berlin auf und hat kaum Kontakt zu ihr. Sie zieht sich zurück und stirbt im Alter von 66 Jahren an den Folgen einer Suchterkrankung.
Irgendwer muss jetzt nach Wien reisen, die Formalitäten regeln und Simones Beisetzung veranlassen. Diese Aufgabe bleibt an Viktor Hellberg hängen. Für ihn war seine Mutter zwar eine fremde Frau, aber was soll er tun? Er lässt sich in seiner Anwaltskanzlei von einem Mitarbeiter vertreten und macht sich mit Tochter Marie (16) auf den Weg. Die schnappt sich gleich nach ihrer Ankunft eine von Simones Kameras, zieht los, um in der Stadt Bilder zu machen – und kehrt nicht ins Hotel zurück.
Tochter entführt – wegen einer CD!
Vater Viktor bekommt einen Anruf und denkt, er sei im falschen Film: Eine ihm unbekannte – und, wie der Leser weiß: rechtsradikale – französische Organisation hat Marie entführt und verlangt im Austausch von Viktor eine CD aus dem Besitz seiner Mutter.
Was denn für eine CD? Viktor hat keine Ahnung, wovon die Entführer reden und wo er suchen soll. Er nimmt Simones Nachlass nach allen Regeln der Kunst auseinander und findet nichts. Nun ist er mit seinem Latein am Ende. Woher soll er auch wissen, wo ein Mensch, den er kaum kannte, etwas versteckt haben könnte?
Zur Polizei traut er sich nicht, also versucht er, mit dem Problem selbst fertig zu werden. Unterdessen haben die Entführer an der widerspenstigen und todesmutigen Geisel nicht sehr viel Freude.
Unerwartete Hilfe bekommt Viktor Hellberg unter anderem von Professor Leopold Markgott, einem Politikwissenschaftler, der an der Uni Wien lehrt und seit Jahrzehnten mit Simone befreundet war. Es kommt zu einem konspirativen Treffen mit ihm in einem Weinlokal, und nicht nur Viktor fühlt sich dabei an Szenen aus dem Orson-Welles-Film DER DRITTE MANN erinnert.
Der Professor weiß seltsamerweise genau, was die Entführer suchen. Nur, wo die CD sein könnte, das weiß er nicht.
Machtbesessene Parteipolitikerin in Not
Noch jemand hat Kenntnis von der CD und ist hinter ihr her: Die ebenso kluge wie ehrgeizige Österreicherin Sophie Wellendorf (28), die mehrere Sprachen spricht, in Harvard Politikwissenschaften studiert hat und für die nationalkonservative „Bewegung“ in Wien arbeitet. Deren Galionsfigur ist der charismatische Wingolf von Manhardt. Er ist ein begnadeter Redner und „Politikerdarsteller“, aber nicht gebildet genug, um Strategien für seine Organisation zu entwickeln oder sie selbst leiten zu können. Dazu braucht er Leute wie Sophie oder den Juristen Tobias. Und Sophie braucht dringend die CD. Ihr Leben hängt davon ab. Niemals hätte sie sie aus den Augen lassen dürfen!
Sophie Wellendorf ist die einzige, die weiß, was auf dem Datenträger gespeichert ist:
Informationen über ein geplantes Attentat an einem beliebten Prominenten, das eine rechtsextreme Organisation öffentlichkeitswirksam dem IS in die Schuhe schieben will. Und das zeitnah vor der Europawahl.
Das ehrbare Handwerk „Auftragsmord“
Hier kommt nun – neben Viktor Hellberg, Tochter Marie und Sophie Wellendorf – noch eine vierte Perspektive ins Spiel: Die des Attentäters. Für diesen Auftrag hat man nämlich den brasilianischen „Pistoleiro“ (Auftragsmörder) Cayetano Rossi engagiert.
Der wurde vor 22 Jahren von seinem eigenen Vater ausgebildet. In seinem Dorf hält man Rossi für einen Geschäftsmann und kennt ihn als etwas biederen, treusorgenden und tiefgläubigen Familienvater. Und irgendwie ist er das auch. Man hat beim Lesen den Eindruck, einen ehrbaren Handwerker vor sich zu haben, der die alten Traditionen hochhält. Penibel führt er über seine Opfer Buch und hat tatsächlich so etwas wie einen Ehrenkodex. Er tötet keine Kinder und keine Schwangeren. Er betet für jedes seiner Opfer. Und auf Verrat steht seiner Meinung nach grundsätzlich die Todesstrafe.
Diesen einen Auftrag will er noch erledigen und sich dann zur Ruhe setzen. Seine Frau Angelina, die er liebt und für ihre Klugheit bewundert, wünscht sich schon so lange ein Haus am Meer – und Hühner. Diese Wünsche will er ihr erfüllen.
Das wird nichts mit dem Ruhestand
Man ertappt sich dabei, den Auftragskiller für einen netten Kerl zu halten und ihm alles Gute zu wünschen. Vielleicht dämmert ihm ja rechtzeitig, worauf er sich da eingelassen hat. Nie und nimmer werden ihn seine Auftraggeber nach diesem Job am Leben lassen! Das können sie sich gar nicht leisten. Aber da wissen wir LeserInnen mehr als Cayetano Rossi. Wir haben inzwischen mehrfach gesehen, wozu diese Leute fähig sind.
Und nun bibbern wir mit verschiedenen Personen mit:
- Wird Viktor Hellberg die CD rechtzeitig finden? Mit dem Mut der Verzweiflung begibt sich auf der Suche nach dem Ding in haarsträubende Situationen. Und in die Wiener „Unterwelt“.
- Gelingt Marie die Flucht vor ihren Entführern? Sie versucht es immer wieder, aber sie hat es nun mal mit Profis zu tun.
- Wird Cayetano Rossi wirklich das Attentat verüben oder überlegt er es sich anders? Wie er sich auch entscheidet: Kommt er lebend aus dieser Nummer raus?
- Last not least: Kommen die Rechtsradikalen mit ihren Machenschaften durch? Die Tricks und Intrigen dieser Gruppierungen werden uns hier elegant im Gewand von Action und Abenteuer untergejubelt, und das ist ganz schön gruselig. Da geht’s einem wie dem Philosophen Theodor W. Adorno: „Ich fürchte nicht die Rückkehr der Faschisten in der Maske der Faschisten, sondern die Rückkehr der Faschisten in der Maske der Demokraten.“ (Seite 445) Was uns wieder zurück zum Anfangszitat bringt: Man sieht nicht immer auf den ersten Blick, mit wem man es zu tun hat.
Ich hätte da noch so ein, zwei Bonusfragen: Was hat den ursprünglichen Besitzer der CD eigentlich geritten, diese überhaupt weiterzugeben? Das war doch ein nicht kalkulierbares Risiko! Schon allein ihre Existenz war hochriskant. Und kannte Marais Viktor Hellbergs familiären Hintergrund? Oder war ihm das schlicht egal? Das werden wir leider nie erfahren.
Wachsam bleiben!
Unheimlicher noch als die überaus spannende Jagd nach der CD und die Bedrohung einer unschuldigen Geisel ist das „Meinungsmanagement“, das die nationalkonservative „Bewegung“ und ihr französisches Gegenstück betreiben. Die wissen genau, was sie tun. Vor allem Sophie. Schade, dass eine so talentierte und scharfsinnige Frau mit ihren Fähigkeiten nichts Besseres anzufangen weiß als Leute zu verar***en, ganz einfach deshalb, weil sie es kann.
Und wir, die Menschen da draußen, sind wir wirklich so leicht zu manipulieren? Ich fürchte, ja. Wenn auch vielleicht nicht alle. Wenn einem hier bildhaft vor Augen geführt wird, wie so etwas läuft, ist das ganz schön beängstigend. Bleiben wir also kritisch und wachsam! Das dürfte die Gefahr, von Personen mit zweifelhafter Agenda gezielt beeinflusst zu werden, minimieren. Gänzlich sicher sind wir davor vermutlich nie.
Die Autorin
I.L. Callis, gebürtige Italienerin, wuchs in Berlin und Paris auf und studierte in Salzburg Jura. Die promovierte Juristin sammelte journalistische Erfahrung beim Aktuellen Dienst des ORF und forschte am Institut für Europäische Rechtsgeschichte zur Zeitgeschichte und zur nationalsozialistischen Gesetzgebung. Aktuelle Themen aus Wissenschaft und Politik liefern den Stoff für Hochspannung und Hintergrund ihrer Bücher. Die Autorin ist Mitglied der International Thriller Writers und gehört der englischen Crime Writers‘ Association an.