Am nächsten Morgen wurde ich von Maria, meiner Tante geweckt. Nachdem ich gefrühstückt hatte, machte ich mich auf den Weg zur Universität. Dort traf ich auf eine drei Freunde und wir besuchten zwei weitere Philosophievorlesungen. Diesmal erwähnte niemand meinen wirklichen Namen. Ansonsten hätte ich mich auf ein Streitgespräch eingelassen, denn ich war bezüglich meiner Arbeit leicht zu reizen. Das hatte ich gestern schon festgestellt.
„Was habt ihr jetzt noch vor?“, fragte ich nach der letzten Vorlesung, die mal wieder von Gredo gehalten wurde. „Ich wollte jetzt noch in die Bibliothek, kommt jemand mit?“
„Nein, ich wollte noch Zuhause etwas lernen“, meldete sich Lucius gleich ab. Auch Marco verabschiedete sich mit der Entschuldigung, er habe noch ein Treffen mit Florentine. Einem Mädchen ,das er gestern Nachmittag kennengelernt hatte.
„Dann bleiben nur noch wir beide übrig oder hast du auch noch etwas anderes vor?“, wandte ich mich an Galileo.
„Ja, in die Bibliothek gehen. Immerhin bin ich gestern nicht dazugekommen!“, grinste Galileo. „Gut, dann lass uns gehen!“, erwiderte ich. Nach einiger Weile fragte ich ihn: „Wonach willst du eigentlich schauen?“ „Erinnerst du dich an gestern Nachmittag, an die herzogliche Villa?“ Ich nickte. „Dieser Mann, Ricci oder wie er heißt, hat über Euklid gesprochen und ich wollte mehr über diesen griechischen Mathematiker herausfinden. Ich hätte nie gedacht, dass Mathe so interessant sein kann. Mein Vater wollte“, bei dem Gedanken an seinen Vater verfinsterte sich seine Miene, „, dass ich unbedingt Medizin studiere, damit ich später ordentlich Geld verdiene. Gegen ein Philosophiestudium nebenher hatte er auch nichts einzuwenden. Fragt sich nur wie er auf Mathematik reagieren wird. Sicherlich nicht gerade erfreut. Seiner Meinung nach sind viel zu viele Gelehrte ohne genug Zubrot und erschleichen sich ihren Lebensunterhalt bei den Adeligen.“ Er blieb kurz schweigend stehen. „Manchmal wünschte ich, ich hätte mir mein Studium genauso frei auswählen können wie du deins – doch nun komm, die verstaubten Folianten warten schon auf uns!“ Seine Miene hellte sich wieder auf. Er schien wieder der Alte zu sein. In der Bibliothek ließ ich mir wieder die „De revolutionibus“ bringen und vertiefte mich in meine eigene Gedanken, die ich hier niedergeschrieben hatte. Galileo las derzeit in „Die Elemente“ von Euklid. Nach einiger Zeit unterbrach er sein Studium und blickte mich an. „Was liest du?“
„Ich arbeite das Werk „de revolutionibus“ von Kopernikus durch. Ich bin nicht derselben Meinung wie Gredo, dass es eine bloße Hypothese ist. Du musst dir nur mal die ganzen Begründungen ansehen.“
„Gredo meinte doch Kopernikus selbst habe sein Werk als reine Hypothese in seinem Vorwort dargestellt. Warum zweifelst du dann daran?“
Innerlich musste ich grinsen. Wie konnte ich bloß an einem Vorwort zweifeln, dass ich selber nie geschrieben hatte? Doch ich konnte Galileo nicht eröffnen, dass der Verfasser des Buches in Gestalt seines Freundes vor ihm saß. Er würde Sandro für vollkommen verrückt erklären und ihm noch weniger glauben. Wie schön, dass du auch an mich in dieser Hinsicht denkst. Wage ja nicht deinen wahren Namen zu nennen. Solange du in meinem Körper bist, musst du mich nachahmen. „Oder hast gar keine Begründung für deine Annahme?“, riss mich Galileo aus meinen Gedanken. „Natürlich kann ich das begründen, oder denkst du ich lege mich Gredo an, wenn meine Worte ohne Hand und Fuß sind? – Komm mal herüber, dann zeige ich dir an dem Buch selber, was mich zu dieser Annahme veranlasst.“ Galileo, der mir gegenüber gesessen hatte, ließ sein Buch aufgeschlagen und kam zu mir herüber. Er rückte einen Stuhl heran und ich schob „mein“ Buch in die Mitte, so dass wir beide darin lesen konnten. „Na dann lass mal hören, Genie. Nicht dass du uns hier noch zu einem zweiten Kopernikus wirst. Und wenn, dann hätten wir jedenfalls viel zu lachen, wenn du dich mit den Professoren anlegst.“
„Na, dann hör mal gut zu. Zum Ersten muss ich sagen, dass das Vorwort anders geschrieben wurde als der Rest des Buches.“ „Na und? Man schreibt nicht immer gleich!“, entgegnete Galileo zugleich. „Das mag sein“, sagte ich lächelnd, „doch weißt es im Normalfall auf einen anderen Schreiber hin. So dass wir festhalten können, dass es nicht zum eigentlich Buch gehört. Wenn man es nun mit dem zweiten Vorwort vergleicht, das an den Papst gerichtet ist, so bemerkt man, dass es inhaltlich verschieden ist....“ So erklärte ich ihm nach und nach, was ich besonders wichtig und einleuchtend fand. Nach einiger Zeit war auch Galileo in das Werk versunken und fing an zu verstehen, weshalb die Sonne im Zentrum der Welt stehen musste und die Erde um sie kreiste. Am späten Nachmittag verließen wir die Universität und trennten uns. Galileo wollte sich erneut in die Villa schleichen und den Worten Riccis lauschen. Am Abend wollten wir uns alle, zusammen mit Marco und Lucius, zum Spiel an der Brücke treffen. Ich hatte keine Ahnung, was das sein sollte, und versuchte Sandro eine Antwort zu entlocken. Dieser hielt sich diesbezüglich jedoch recht bedeckt. Man trifft sich mit Studenten anderer Fakultäten an einer Brücke am Arno und verbringt einen angenehmen Abend. Dies war die einzige Erklärung, die er mir zukommen ließ.
Wenigstens, so dachte ich, habe ich jemanden gefunden, der mein Weltsystem nicht verhöhnt und in Zukunft vielleicht sogar dafür kämpfen wird. Doch das waren nur Wunschträume. Ich kannte Galileo gerade mal gut zwei Tage und meinte ihn schon zu kennen. Dabei überraschte er mich immer wieder. Hoffentlich gehörte er nicht zu den sprunghaften Typen, die jeden Tag anderer Meinung sind. In dieser Hinsicht blieb mir bloß zu beten, dass Gott mir mit Galileo den richtigen Nachfolger gegeben hatte.
Am Abend traf ich auf der Brücke auf Galileo, Marco und Lucius, sowie diverse andere Studenten. Es dämmerte bereits und bald würden nur noch die Sterne am Himmel zu sehen sein. Noch standen alle in kleinen Gruppen zusammen und lachten und diskutierten miteinander. Einige Blicke deuteten auf mich während ihrer Gespräche, als sprächen sie über mich. Sicherlich hatte mein kleiner Disput mit Gredo die Runde gemacht. Während wir warteten, fragte sich bloß worauf, erzählte Galileo von dem, was Ricci heute erklärt hatte. Er war stolz darauf, diesmal nicht erwischt worden zu sein, und meinte, wenn er richtig aufpasse, könne er noch mehr bei ihm lernen, ohne dass es sein Vater erfuhr. Als die Schwärze der Nacht uns alle einhüllte, wurde es ruhiger. Plötzlich rief mir einer der Jungen, der mich vorher schon mal kritisch betrachtet hatte, zu: „Hey Cordanus, wenn du schon den Mut hast gegen die Professoren zu reden, dann kannst deinen Mut auch unter uns beweisen. Hiermit fordere ich dich zu einem kleinen Kampf auf. Gewonnen hat derjenige, der den anderen in den Arno befördert hat!“ Die Männer johlten zustimmend und schrieen: „Kämpfen, kämpfen!“
Meine Freunde klopften mir aufmunternd auf die Schulter. „Los Sandro, den machst du fertig!“ „Zeig was du drauf hast!“ „Du musst ihn doch nur in den Arno befördern!“
Nur war gut. Ich hatte seit meinen Studienjahren keine Rauferei mehr gehabt und war dementsprechend ungeübt. Nun komm schon. Mach aus mir keinen Feigling. Es war klar, dass Sandro auch noch seinen Senf dazu geben musste.
„Ich nehme deine Herausforderung an!“, erhob ich meine Stimme. Johlend stellten sich die Studenten zu beiden Seiten der Brücken auf, so dass kein Kontrahent fliehen konnte. Wir gingen auf einander zu und belauerten uns. Jeder wartete darauf, dass der andere anfing. Beide wurden wir jeweils lauthals angefeuert. Doch nach einiger Zeit konzentrierte ich mich so auf meinen Gegner, dass ich die Rufe nicht mehr mitbekam. Sie schienen nur noch aus weiter Ferne zu mir herüber zu schallen. Plötzlich prallte ein Körper gegen meinen. Ich kämpfte gegen sein Gewicht an und versuchte ihn meinerseits ihn zum Brückengeländer zu drängen. Doch ich war nicht stark genug. Plötzlich stand ich mit dem Rücken gegen das Brückengeländer. Ich kämpfte verbissen darum diese Situation zu ändern, doch war es zwecklos. Ich kam aus seinen Griff nicht frei. Den Moment, den ich nutzen wollte mein Gewicht zu verlagern und meinen Kontrahenten doch noch wegzudrücken, benutzte dieser um mich zu packen und in den Fluss zu katapultieren. Ich verlor das Gleichgewicht und fiel hintenüber in den Fluss. Als ich auf der Wasseroberfläche aufkam wurde mir schwarz vor Augen. Ich stürzte in die Dunkelheit. Weiche Kissen milderten meinen Sturz und ich versank in ihnen. Unfähig etwas zu tun und zu denken. Ich existierte bloß in der wohligen Schwärze.
Als ich erwachte, lag ich in meinem Bett. Ich war wieder in meinem eigenen Körper und in meinem eigenen Zimmer in Frauenburg. „Schön, dass du wieder wach bist, Nikolaus. Wie geht es dir?“ Ich blickte mich um, um zu sehen, wer mit mir sprach. Es war mein Freund Tiedemann. Er hatte am Fenster gestanden und kam nun auf mich zu. Mir taten alle Glieder weh, doch hatte ich keine Lust es ihm zu erzählen. Sie taten sicherlich noch vom Kampf weh und das würde schon wieder verschwinden „Schön dich zu sehen, Tiedemann! Was ist passiert?“ „Du bist seit drei Tagen ohne Bewusstsein gewesen. Bruder Markus hat dich gefunden und mit Hilfe von Andreas in dein Bett gebracht. Ich hatte in der Nähe zu tun und wollte dich kurz besuchen. So kam ich an und man sagte mir, du seist bewusstlos geworden und der Arzt sei bei dir. Doch jener konnte sich nicht erklären, warum du zusammen geklappt bist.“ Interessant. War ich zu jener Zeit also in Wirklichkeit hier im Bett. Hoffentlich war Pisa kein Traum. „Tiedemann, du weißt doch, dass ich mein Werk Rheticus mitgegeben habe, damit er es in Nürnberg verlegen lässt.“
„Ja, das hattest du mir geschrieben.“, Tiedemann setzte sich stirnrunzelnd zu mir nieder.
„Du kommst doch mehr herum als ich. Könntest du aufpassen, dass es nicht Andreas Osiander in die Hände fällt. Er darf es auf keinen Fall vor dem Druck sehen. Ansonsten war meine ganze Arbeit umsonst, denn er stellt meine ganzen Erkenntnisse als bloße Hypothese dar. Durch ihn wird meine ganze Arbeit zunichte gemacht.“
Tiedemanns Gesicht zeigte Besorgnis. Ich spürte, dass er meine Worte nicht ernst nahm. Dennoch versprach er mir, jedoch nur um mich zu beruhigen. Er stand wieder auf. „Ich werde mal den Arzt holen, damit er dich noch einmal untersuchen kann! Willkommen zurück, Nikolaus. Ich komme gleich wieder.“ Er verließ das Zimmer und ich war allein. Im Kamin prasselte ein warmes Feuer. Kerzen erhellten den Raum spärlich. Doch von draußen gelangten die ersten Sonnenstrahlen durchs Fenster. Ein neuer Tag dämmerte heran. Mit ihm kam auch die Gewissheit, dass ich in der Zukunft jemanden gefunden hatte, der meine Lehre verteidigte. Ich dankte Gott dafür, dass er mir diese Möglichkeit eröffnet hatte.
Zufrieden betrachtete ich den herannahenden Tag.