Den Stein ins Rollen gebracht Teil 3

  • Im Bibliotheksgebäude fragte ich den Lektor nach dem Buch „De revolutionibus“ von Nikolaus Kopernikus. Er bedeutete mir ihm zu folgen und gab mir das Buch, nachdem er eine Leiter bestiegen hatte und es aus dem obersten Bücherregal geholt hatte. Ich bedankte mich und setzte mich an einen freien Tisch. Hastig schlug ich das Buch auf. Das Vorwort, welches ich noch nie gesehen hatte, fiel mir sofort in die Augen: „An den Leser: Über die vorausgesetzten Annahmen dieses Werks.“ Wie konnte jemand Fremdes in meinem Namen zum Verstehen meines Buches beitragen? Empört las ich weiter. Zwei Sätze brannten sich besonders in meinen Kopf.
    „Es ist nämlich gar nicht notwendig, daß diese Vorraussetzungen wahr sein müssen, nicht einmal daß sie wahrscheinlich sind, sondern es reicht schon dies allein, wenn sie eine mit den Beobachtungen zusammenstimmende Berechnung darstellen.“
    Natürlich, weiter konnten die anderen Gelehrten auch nicht denken. Es ging nicht nur um einen bloßen Berechnungsversuch, sondern um eine auf den Beobachtungen gestützte Sichtweise der Welt. Der zweite Satz, der mir sehr zu denken gab, war folgender: „Lassen wir es also geschehen, daß auch diese neuen Erklärungsannahmen innerhalb der Reihe der alten, um nichts wahrscheinlicheren, bekannt werden, zumal die bewundernswert und zugleich leicht fasslich sind und einen riesigen Schatz gelehrtester Beobachtungen mit sich führen.“
    Wütend schlug ich das Buch wieder zu. Es war kein Wunder, dass alle darüber lachten. Das Buch musste denen, die es gelesen hatten, wie eine Spielerei vorgekommen sein. Vor allem nachdem dieses im Vorwort angekündigt wurde, dass es nichts anderes sei. Flüchtig glitt mein Blick noch auf den Titel des Buches. Ich hatte es „De revolutionibus“ genannt, doch auch der Titel war verändert worden. Es hieß nun „De revolutionibus orbium coelestium de libri VI“.
    In der Bibliothek hielt ich es nicht mehr länger aus. Ich eilte hinaus, um an der frischen Luft einen klaren Gedanken zu fassen. Im Innenhof setzte ich mich auf eine Bank und grübelte. Das Vorwort konnte nur von meinem Verleger Andreas Osiander stammen. Er hatte schon bezüglich einer Vorrede seinerseits angefragt, um die umwälzenden Ideen des Werkes abzuschwächen. Natürlich hatte ich strikt abgelehnt. Sollte so mein ganze Arbeit in der Zukunft gewürdigt werden? Sollte es nie zu Bedeutung gelangen und anderen Forschern erleichtern eigene Erkenntnisse zu finden? Ich war deprimiert. Alles, wofür ich gelebt hatte, schien verloren. Was sollte es also, dass ich hier in der Zukunft gelandete war? Wollte der Allerhöchste mir meinen Irrtum aufzeigen, dem ich in meinem Leben verfallen war?
    Dann bist du also Nikolaus Kopernikus. Angenehm dich kennen zu lernen. Immerhin besetzt du im Moment meinen Körper. Ich bin außerdem Sandro Cordanus, was du aber sicherlich schon mitbekommen hast, als du dich mit Professor Gredo angelegt hast.
    Überrascht schaut ich mich um, wer da mit mir gesprochen hatte, doch es war niemand in der Nähe. Ich schloss kurze Zeit die Augen, um mir einzureden, die Stimme hätte es nie gegeben.
    Ich bin keine Illusion und auch keine Vision. Ich bin der eigentliche Besitzer des Körpers, doch dein Gewissen hat sich hier urplötzlich eingeschlichen. Denk daran, du selbst hattest dich schon gewundert, warum du verjüngt wurdest. Das ist die einfache Antwort.
    Die Stimme des Sandro hatte recht. Ich muss wohl in seinen Körper gefahren sein. Eine andere Erklärung fand ich jedenfalls auch nicht.
    Würdest du mir dann helfen in deiner Welt zurecht zu kommen? Ich weiß noch nicht einmal welches Jahr ihr hier schreibt. Die einzigen Dinge, die ich bis jetzt herausgefunden habe, sind, dass du ein Student in Pisa bist und das ich bereits gestorben bin.
    Natürlich werde ich dir weiterhelfen. Wir schreiben das Jahr 1583 und du dürftest schon seit circa 40 Jahren tot sein. Aber bitte, fühle dich wie Zuhause.
    Ich war so auf diese Stimme in meinem Kopf fixiert, dass ich nicht bemerkte wie meine vier Kumpanen scherzend auf mich zukamen. Erst nach dem dritten „Hey Sandro!“ von Galileo reagierte ich. „Ja, was gibt es denn?“ „Was war das denn eben bei der Vorlesung? Wie kommst du darauf dem Professor zu widersprechen?“
    „Ich bin in dieser Hinsicht nun einmal anderer Meinung. Lies einfach mal das Buch des Kopernikus, dann wirst vielleicht auch du bemerken, dass da viel Wahrheit drin steckt.“
    Galileo schüttelte den Kopf. „Du bist mir heute wirklich ein Rätsel! – Erst erkennst du mich nicht und dann machst du dich in der Vorlesung zum Trottel. Sag mal, hat deine Freundin mit dir Schluss gemacht?“
    Er meint Avia. Sie ist seit einem Monat meine bzw. jetzt deine Freundin. Doch bei uns läuft alles prima.
    „Oder hast du Stress mit ihr?“, meldete sich Lucius zu Wort. „Nein, nein! Mit Avia läuft alles gut. Sie ist im Moment bloß bei Verwandten in Florenz. - Laufen heute eigentlich noch irgendwelche anderen Vorlesungen?“
    „ Also, für uns nicht.“, bemerkte Marco. „Aber du hast heute noch eine Mathevorlesung, bei Melius. Viel Spaß noch dabei! Wir haben jetzt frei und können den restlichen Tag genießen.“
    Ich werde dir zeigen, wo du zur Vorlesung hingehen musst. Tu einfach so, als wüsstest du Bescheid.
    Galileos besorgter Miene war wieder einer heiteren gewichen. „Bis heute Abend dann an bekannter Stelle am Arno!“, meinte er bloß und klopfte mir aufmunternd auf die Schulter. „Grübel nicht so viel, sondern genieße den Tag!“ Die Drei gingen lachend Richtung Ausgang.
    Nachdenklich blieb ich noch sitzen. Es durfte nicht sein, dass mein Werk in aller Welt so verkannt wurde. Es musste doch jemanden geben, der die Wahrheit in dem heliozentrischen Weltbild entdeckte. Meine Freunde aus meiner Zeit als Domherr, lebten wahrscheinlich auch nicht mehr, wenn ich schon vor 40 Jahren gestorben sein soll. Es gab eigentlich nur eine Lösung für dieses Problem. Um sicherzustellen, dass jemand quasi mein „Erbe“ annimmt, musste ich diesen jemanden nun erwählen und ihm helfen auf den richtigen Pfad zu kommen. Das war vielleicht der Grund dafür, weswegen ich in die Zukunft geschickt wurde. Ich sollte jemanden finden, der mein Werk verteidigte, da es mehr der Wahrheit entsprach als das alte Weltbild, in dem sich alle Himmelskörper um die Sonne drehen sollen.
    Diese Erkenntnis verband ich während der Vorlesung - die mich langweilte, da ich alles schon kannte - mit einem Plan, wie ich den „Auserwählten“ ausfindig machen könnte. Nach der Vorlesung ging ich nach Hause. Sandro half mir den Weg zu finden und klärte mich kurz über seine Verwandten auf, bei denen er hier in Pisa lebte.
    Dort erwartete mich ein schmackhaftes Mittagessen und eine nette Tante. Sie war nicht zu aufdringlich, versuchte dennoch jeden meiner Wünsche zu erfüllen. So konnte ich mich schnell auf Sandros.. ,ich meine, auf mein Zimmer zurückziehen. Nach kurzer Zeit wurde es mir jedoch zu langweilig, denn ich hatte nichts weiter zu tun als herum zu sitzen. Also ging ich auf die Straßen um Pisa mit meinem Städteführer im Kopf zu erkunden. Dienstmädchen eilten durch die Straßen um Besorgungen zu erledigen, an einigen Ecken versuchten Männer ihr Glück beim Glücksspiel und um meine Beine tollten Kinder, die Fangen spielten. Insgesamt war ein reges Treiben in der Stadt, da heute auch Markttag war. Frauen eilten zu den Verkaufsständen und Händler priesen ihre Ware. Sofern sie dieselbe Ware verkauften, priesen sie ihre eigene Ware um so höher, senkten ihre Preise und machten Angebote wie „Kauft drei Pfund Kartoffeln und ihr bekommt ein Bund Möhren gratis dazu!“ Es war angenehm die Lebhaftigkeit und Freude der Menschen mitzubekommen, denn als Domherr war ich nur selten auf dem Markt gewesen. Irgendwann gelangte ich wieder in die vornehmeren Gegenden von Pisa. Die Fassaden der Häuser waren mit Figuren und Ornamenten versehen und der Lärmpegel war gesunken.
    Mein Weg führte mich zu einem prächtigen Domizil, von wo ich mehrere Stimmen vernahm. Das Anwesen war prächtig. Ein großes reich verziertes Haus aus weißem Stein von einer langen gewaltigen Mauer eingeschlossen. Neugierig ging ich näher, um zu sehen was dort vor sich ging. Plötzlich stieß ich mit einem Mann zusammen. „Könnt ihr nicht aufpassen“, entfuhr es meinem Gegenüber. Die Stimme des Mannes kam mir bekannt vor. Als ich ihn mir ansah, erkannte ich Galileo. „Galileo, was führt dich des Weges?“
    „Tag, Sandro. Bist du endlich wieder du selbst? Ich wollte gerade noch in die Bibliothek. Willst du mitkommen?“
    „Nein, danke. Mich interessiert vielmehr was hier“, ich deutete auf das Anwesen, „los ist. Hast du Lust mitzukommen? In der Bibliothek kannst du noch später noch lange genug sitzen, oder hast du dich etwa mit jemanden verabredet?“
    „Du hast recht. Eigentlich langweilen mich die Bücher auch. Doch für Medizin muss man so viel lernen... Aber weißt du was, ich komme gerade mit. Es ist immer interessant, was die Herrschaften treiben.“ So schlich ich mich mit Galileo auf das Anwesen. Wir mussten vorsichtig sein, da Wachen den Toreingang bewachten. Als mehrere Bedienstete auf einmal hineingingen, mischten wir uns unter sie und gelangten unbemerkt auf das Grundstück. Hinter der Mauer eröffnete sich uns ein fantastischer Anblick. Ein breiter langer Weg führte zu der herrschaftlichen Villa hinauf. Von ihm zweigten kleinere Wege ab. Viele Palmen, Dattel- und Feigenbäume waren in Gruppen gepflanzt und einen Gartenpavillon konnten wir in der Ferne entdecken. „Wow, so leben nur Adelige!“, Galileo stieß einen leisen Pfiff aus. „Die müssen ein angenehmes Leben führen.“
    Die Stimmen, die mich hergeführt hatten, kamen aus der Richtung des Pavillons. Zusammen mit Galileo, dessen Neugier ich geweckt hatte, bewegte ich mich in dessen Richtung. Dort angekommen versteckten wir uns hinter dem Rondell und lauschten den Worten des Redners. Er sprach über Euklid, einen griechischen Mathematiker, der durch seine Geometrie bekannt geworden war. Über ihn hatte ich selber viel bei meinem Mathematikstudium gelernt. Der Mann hier sprach zu mehreren jungen Männern und erklärte ihnen den euklidischen Lehrsatz. Ich fühlte mich irgendwie unwohl in eine Lehrveranstaltung hereingeplatzt zu sein, auch wenn mich niemand bemerkte. „Komm Galileo, lass uns wieder verschwinden. Die reden bloß über Mathematik. Davon höre ich in der Universität schon genug.“
    „Sei mal leise. Ich will etwas davon mitbekommen. Es ist interessant und sehr logisch aufgebaut. Ich will mehr davon hören. Wenn diese Veranstaltung vorbei ist, können auch wir verschwinden. Ich setzte mich an die Mauer und wartete ab, bis Galileo endlich genug gehört hatte. Immer wieder kamen von den jungen Männern Zwischenfragen. „Herr Ricci, wie kann denn das Rechteck denselben Flächeninhalt besitzen, wenn es andere Seitenlängen hat?“ Herr Ricci hier, Herr Ricci da. Da ich jedoch eh nichts anderes zu tun hatte, leistete ich meinem Freund Gesellschaft. Ich fing an vor mich hinzudösen und fragte mich, ob Galileo der Richtige wäre um meiner Lehre ihren Wahrheitsanspruch zurück zu geben. Er war sehr interessiert und begeisterte sich auch für die Mathematik. Vielleicht war das der richtige Anfang. Wir waren so mit uns selber beschäftigt, dass wir nicht bemerkten wie zwei Wachen auf uns zukamen. „Wen haben wir denn hier? Eindringlinge, die gerne ein bisschen herzogliche Luft schnuppern wollten, oder wie?“ Sie packten uns und führten uns aus der Gartenanlage auf die Straße. „Das wir uns hier nie wieder sehen! Das ist herzoglicher Grund, den ihr nicht zu betreten befugt seid.“ „Schmarotzer!“, fügte der andere noch hinzu.
    Wir beeilten uns aus der Sichtweite der Wachen zu kommen. „Siehst du was uns dein Warten eingebracht hat, Galileo? Nur wegen dir wurden wir entdeckt!“
    „Na und? Wir sind doch glimpflich davon gekommen. Außerdem machte all das Sinn, was der Ricci dort erzählt hat. Morgen werde ich wieder hier hin gehen. Und dann werden sie mich nicht erwischen. Ich muss bloß mehr aufpassen.“ Er war sehr gut gelaunt und dachte nicht mehr an die Bibliothek. Unaufhörlich redete er von Euklid und was er doch für ein gescheiter Mensch gewesen sein musste. Obwohl ich mich langweilte, wollte ich Galileos Elan nicht bremsen. Denn die Geometrie war auch ein gewisser Bestandteil meines Werkes. Man musste sie verstehen, um meinen Berechnungen folgen zu können. Ich erzählte ihm von Dingen, die ich schon in meinen Mathematikvorlesungen gehört hatte und schürte damit noch Galileos Neugier. Wir schlenderten wieder zum Domplatz, auf dem ich mich heute morgen wiedergefunden hatte, geschlendert und setzten uns dort auf eine Bank, um weiter zu diskutieren. Als es zu Dämmern anfing, standen wir auf und trafen uns mit Marco und Lucius. Auf dem Weg machte Galileo einigen Mädchen Avancen, die daraufhin kichernd weitergingen und uns lachend Blicke hinterher warfen. Den Abend verbrachten wir vergnügt in einer Taverne. Marco machte Witze über die Professoren. Er ahmte ihre Akzente nach und meinte, sie sollten erst einmal richtig sprechen lernen, bevor sie versuchten uns etwas zu lehren. Natürlich kam auch mein abruptes Verlassen des Hörsaales zur Sprache. Die Stimmung war ausgelassen und wir tranken einiges an Wein.