Das war ein Schock für mich. In der Welt in der ich gelandet war, war ich schon längst verstorben und meine Lehre war nichts weiter als ein Amüsement für Studenten. Trotz alledem hatte ich niemals in meinem Vorwort geschrieben, meine Abhandlung sei eine reine Hypothese. Immerhin war sie wahrer als alle anderen Weltbilder. Ich blinzelte in helles Sonnenlicht, als ich meine Augen aufschlug. Das Gesicht eines jungen Mannes war über mich gebeugt und lachte mich an. „Mensch Sandro, was legst du dich hier mitten auf dem Platz einfach schlafen? Dafür hast du doch noch später Zeit!“ Er reichte mir seine Hand um mir aufzuhelfen. Ich nahm sie dankbar, aber verwirrt an. Die Luft war heiß und schwül. Die Sonne stach mir auf den Kopf. Als ich mich umschaute war ich erst recht verwundert. An der Spitze eines größeren Gebäudes, das ich als Dom erkannte, sah ich einen schiefen Turm, der aus weißem Stein erbaut war. Er neigte sich gefährlich zur Seite. Dass er nicht einstürzte, war ein Wunder.
„Sandro, was ist mit dir los? Der Turm hat dich doch sonst auch nicht so interessiert! Außerdem sind wir schon spät dran. Die Vorlesung von Professor Gredo beginnt gleich!“ Den jungen Mann neben mir hatte ich vergessen. Ungeduldig schaute er mich an. Ich fragte mich, wo ich wohl gelandet war. In meinem Heimatland war ich jedenfalls nicht mehr.
„Wo bin ich und wer bin ich?“, wandte ich mich an meinen Nebenmann.
„Du bist mein Freund, Sandro, und wir sind immer noch auf der Piazza del Duomo! Doch nun komm!“ Er drückte mir eine Tasche in die Hand und ging zielstrebig voran. Ich folgte ihm anfangs nur zögernd, musste dann aber meine Schritte beschleunigen, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Die ganze Zeit fragte ich mich krampfhaft, was das sollte. Ich war noch nie an diesem Ort gewesen, geschweige denn kannte ich den jungen Mann der ein Freund von mir sein sollte. Nicht nur mein Freund, auch ich sah plötzlich jung aus. Jedenfalls meinen Händen und der Beweglichkeit meiner Glieder zufolge. Mein Freund, dessen Name ich nicht kannte, führte mich durch mehrere Gassen, bis wir vor einem großen weißen Gebäude standen. Wahrscheinlich war es die Universität der Stadt, wenn wir auf den Weg in eine Vorlesung waren. Dann musste ich ein Student sein.
„Trödel nicht rum! Beeil dich!“, rief mit der junge Mann von den Eingangstüren zu. Ich war wohl kurz stehen geblieben. Ich beeilte mich sehr den Anschluss an ihn nicht zu verlieren. Er war schon hinter den Türen verschwunden. Zuerst musste ich herausfinden, was hier los war und er würde mir am ehesten helfen können. Immerhin kannte er mich beziehungsweise den Mann, in dessen Körper ich steckte.
In der Universität war es angenehm kühl, doch mussten sich erst meine Augen an das Halbdunkel gewöhnen, bevor ich mich orientieren konnte. In der Eingangshalle standen einige Studenten herum, die in Gespräche oder Bücher vertieft waren. Einige grüßten mich kurz. Suchend blickte ich mich nach dem mir bekannten Gesicht um. Ich fand es unter ein paar Männern.
Mein Freund sah mich und winkte mich zu ihm und seinen Freunden herbei.
„Da bist du ja endlich. Dann können wir endlich losgehen!“
So ging ich nun zusammen mit meinen neuen Freunde in eine Vorlesung. Ich schaute mir die Gesichter der anderen drei Männer genauer an. Einer war recht klein und gedrungen. Er hatte schwarzes krauses Haar und ein verschmitztes Lächeln auf dem Gesicht. Das ist Marco, der Scherzbold in unserer Runde. Neben ihm geht Lucius. Beide sind beste Freunde und machen sich gerne über die Professoren lustig. Der Mann, der dich aufgelesen hat ist Galileo. Er ist ziemlich sprunghaft und kann sich nicht entscheiden, ob er sein Mathematikstudium gegen den seinem Vater durchsetzen soll oder nicht. Als letzter bei uns im Bunde ist Florenzo, der Hilfsbereite und Frauenheld. Eine Stimme in meinem Kopf erklärte mir das alles. Das mussten Erinnerungen des Menschen sein, in dessen Körper ich nun stecke. Ich war dankbar über die Erklärungen, denn so würde ich hoffentlich einigermaßen hier zurechtfinden.
Wir betraten den Hörsaal und setzten uns in die dritte Reihe, um besser den Worten des Professors folgen zu können. „Wovon handelt die Vorlesung von Gredo heute eigentlich?“, fragte ich Marco. „Er wollte von der aristotelischen Kosmologie sprechen, hatte er letzte Woche angekündigt. Du warst es doch, der unbedingt diesen Vortrag hören wollte. Die Kosmologie ist nicht so ganz mein Thema, aber du wolltest, dass ich unbedingt mitkomme.“
„Stimmt, passt schon. Ich war nur gerade ein wenig durcheinander. Ich hatte die Nacht nur schlecht geschlafen!“ Irgendetwas musste ich sagen, sonst würde es auffallen, dass ich nichts über sie wusste..
Langsam fand ich mich mit der Situation ab. Obwohl, was heißt hier abfinden, ich hatte sie nun einmal zu meistern. Ich fing an die Tasche auszupacken, die ich bei mir hatte. Gänsekiel, Papier und Tinte. Außerdem fand ich Aufzeichnungen, die sich entweder mit der stoischen Lehre befassten oder mit mathematischen Problemen. Ich legte mir Papier und Schreibsachen zurecht und wartete, dass etwas passierte.
Die vier unterhielten sich angeregt über Mädchen, als der Professor den Saal betrat. Nach und nach verstummten die Gespräche und alle schauten interessiert zum Sprechpult. Der Mann, der seine Arme darauf abgelegt hatte, war von kleiner und gedrungener Gestalt. Sein schütteres Haar war an einigen Ecken schon grau geworden. Nach einem kurzen Blick auf seine Notizen schaute er kurz in die Runde. Dabei huschte ein Lächeln über sein Gesicht, denn die Plätze waren gut besetzt.
„Guten Morgen meine Herren. Wie beim letzten Mal angekündigt, werden wir heute über die Kosmologie des Aristoteles sprechen. Aristoteles war der Schöpfer der Logik mit der Lehre vom Urteil, vom Schluss und von der Beweisführung. Er schuf die Ethik, Ontologie und Metaphysik. Der Grundstein unseres Wissens und unsere Philosophie wurde von ihm gelegt. Daher ist er einfach „der Philosoph“ zu nennen. Über seine Ethik und Ontologie haben wir bereits gesprochen. Diese Bereiche gehören mit Sicherheit zu den wichtigsten, doch sind seine Gedanken zur Metaphysik nicht zu verachten. Denn auf sie bauten sich die nachfolgenden Weltbilder der Astronomen auf.“
Damit hatte Gredo recht. Auch mein Werk stützte sich auf Aristoteles. Die Kugel als die erstrebenswerteste Form aller irdischen Körper, war eine sehr scharfsinnige Erkenntnis. Welche Form war besser als die einer Kugel? Ich erinnerte mich daran, wie mein ehemaliger Professor Mercani uns Studenten in Bologna über den Philosophen belehrt hatte. Wie groß seine Bedeutung für unsere Welt war und welche Astronomen sich alle auf Aristoteles stützten. Diese Vorlesung gab mir auch den Elan mehr über die Antike Welt zu erfahren. So bin ich auf Aristarchos von Samos gestoßen.
Ich wäre weiterhin meinen Gedanken erlegen gewesen, hätte mich nicht ein Wort von Gredo aus ihnen hochgeschreckt.
„... ein gewisser Nikolaus Kopernikus meinte sogar die Erde aus dem Weltzentrum reißen zu können und sie den anderen Planeten gleich um einen neuen zentrierten Körper kreisen lassen zu können. Dieser Himmelskörper ist die Sonne, seiner Ansicht nach. Dies ist jedoch ein Irrtum seinerseits, denn die Erde steht in der Mitte still und ihr sind Sonne, Mond und Sterne zu Diensten. Alleine ihr kommt dieser auserwählte Platz zu. Die Vorstellung ist lächerlich, dass sie wie eine Kugel um die Sonne rollt. Ein Wunder, dass wir noch nicht von der Erdkugel bei solch gewaltiger Bewegung heruntergekullert sind!“
Allgemeines Gelächter erscholl im Saal. Einige Studenten ließen sogar kleine Papierkügelchen auf ihren Tischen rollen und zeigten lachend auf sie. Ich meinerseits war still. Wie konnten sie die Wahrheit so verschmähen? Mir war klar, dass es viele Gegner meines Werkes gab, doch war es einfach unmöglich es auch noch lächerlich zu machen.
Als das Gelächter abebbte, erhob ich meine Stimme.
„Professor – dieses Weltsystem mag auf den ersten Blick abstrus erscheinen, dennoch war Kopernikus nicht der erste, der die Sonne in die Mitte der Welt stellte. Außerdem will er seine Thesen, die er im Commentariolus niederschrieb auch noch beweisen.“
Es war komisch von mir selber in der dritten Person zu sprechen. Doch es war die einzige Möglichkeit, den Studenten die Wahrheit meiner Lehre näher zu bringen.
Nach meinen Worten war es ganz still im Saal geworden und alle starrten mich an. Vor allem meine vier Begleiter blickten verdutzt. Alle erwarteten eine Antwort des Professors.
„ Guter Einwand Herr Cordanus. Sie haben den Commentariolus gelesen? Dann dürften sie doch sicherlich schon etwas von dem Hauptwerk des Kopernikus „De revolutionibus orbium coelestium“ gehört haben. In dem Werk begründet er sein heliozentrisches Weltbild, jedoch sicherte er sich vorher ab, dass seine Vorstellungen nur als Hypothese, zum besseren Berechnen der Planetenbewegungen zu benutzten sei und nicht der Wahrheit entspricht. Er veröffentlichte sein Werk im Jahre seines Todes. Man sagt, er sei mit dem Werk in seinen Händen friedlich entschlafen. Wenn sie sich so für diese Vorstellung interessieren, sollten sie dieses Werk einmal studieren. Gewiss entspricht es nicht der Wahrheit, doch ist es nichtsdestotrotz eine anregende Lektüre.
Nun aber zurück zu Aristoteles. Er lehrte, dass die vier Elemente Kombinationen der vier Grundqualitäten warm und kalt, feucht....“
Der Professor dozierte immer weiter, doch ich konnte ihm einfach nicht mehr zuhören. Seine Worte, besonders seine verachtenden Worte über meine Lehre, brachten mein Blut zum Kochen. Rasch packte ich meine Sachen zusammen und stand auf. Marco, Galileo und Lucius wollten mich noch aufhalten, aber ich verließ raschen Schrittes den Saal. Ich irrte die Flure der Universität entlang, bis ich mich einigermaßen beruhigt hatte. Dadurch hatte ich mich verirrt. Ich wusste nicht mehr, wo es herausging. Das war mir jedoch egal. Mich interessierte mehr, wo die Bibliothek war. Ich wollte das Vorwort, auf welches sich Gredo bezogen hatte, mit eigenen Augen lesen. Also fragte ich ein paar Studenten. wie ich wohl zur Bibliothek gelange, und machte mich auf dem Weg dorthin. Meinen neuen Körper und die andere Welt, in der ich zu sein schien, waren auf einmal vergessen. Es zählte nur die Verschandelung meines Werkes selbst vor Augen zu haben.