Judith Visser - Mein Leben als Sonntagskind

  • 607 Seiten

    Harper Collins Verlag

    ET: 02.05.2019

    OT: Zondagskind


    Da auch Judith Visser erst im Erwachsenenalter erfahren hat, dass sie das Asperger-Syndrom hat, merkt man dem Buch deutlich an, wie authentisch es ist und man fragt sich oft, was eigene Erfahrungen sind und was Fiktion.


    In dieser Geschichte begleiten wir die 4jährige Jasmijn ab ihrem ersten Besuch in der Vorschule und weiter bis sie eine junge Erwachsene ist und endlich erfährt, warum sie so anders ist, als ihre Mitmenschen.

    Da man als Leser von Anfang an weiß, dass Jasmijn das Asperger-Syndrom hat, kann man ihr Verhalten natürlich verstehen. Anders als ihre Familie, die zwar schon immer spürt, dass Jasmijn besonders ist, aber die nie auf die Idee kommt, dass man dies untersuchen müsste. Auf der einen Seite macht das ihre Eltern sehr liebenswert, denn sie lieben ihre Tochter so wie sie ist. Auf der anderen Seite habe ich als Leserin mit Jasmijn mitgelitten, denn ihr hätte es sicher sehr geholfen, wenn sie gewusst hätte, dass sie sich noch so sehr anstrengen kann, aber dass sie nie so sein wird wie alle anderen. Und das wäre sie doch so gerne. Wenn sie z.B. ihren Bruder Emiel sieht, der sich die Schuhe zubinden kann, einen Ball fangen, aus einem Glas trinken ohne zu kleckern und mit Erwachsenen reden, was ihr besonders schwer fällt.


    Dafür kann Jasmijn andere Dinge besonders gut. Wenn sie etwas interessiert, kann sie sich dieses Wissen schnell aneignen und merken. Deshalb liest sie auch schon früh sehr gerne und viel, denn in Büchern ist ein wahrer Schatz an Wissen verborgen.


    Mit viel Einfühlungsvermögen, beschreibt die Autorin Jasmijns Geschichte, was sicher auch ihren eigenen Erfahrungen zu verdanken ist. So sind z.B. laute und viele Geräusche für sie kaum zu ertragen. Sie kann dann Gespräche, Musik und andere Hintergrundgeräusche nur schwer filtern, denn alles klumpt sich zu einem Geräuschknäuel zusammen, das gegen ihre Ohren donnert. Und wenn sie derart überfordert wird, kommt es nicht selten zu einem totalen Zusammenbruch. In solchen Momenten fragt sie sich oft, warum sie nicht wie alle anderen sein kann und sie wird regelrecht ärgerlich auf sich selbst, weil sie sich einfach nicht normal benehmen kann. Es ist berührend zu lesen, wenn sie sich dann eine zweite „normale“ Jasmijn vorstellt, die solche Situationen mühelos meistern kann – eine Fantasie, die für sie unerreichbar bleiben wird.


    Es gibt noch vieles mehr, was für Jasmijn eine enorme Herausforderung darstellt, oder sogar unmöglich für sie ist. Doch an der Seite ihrer Hündin Senta findet sie Halt. Senta ist ihre beste Freundin. Bei ihr kommt sie zur Ruhe und es fällt ihr körperliche Nähe nicht schwer, die sie ansonsten kaum erträgt.


    Stellenweise ist das Buch fast wie ein Erlebnisbericht geschrieben. Die fast schon sachlichen Schilderungen passen jedoch perfekt zu Jasmijns Denkweise. Und so reihen sich viele einzelne Episoden in kurzen Kapiteln aneinander, während Jasmijn vom Kleinkind zur jungen Frau heranwächst. Viele dieser Episoden haben mich sehr berührt, aber da sich manches wiederholt, gab es auch die ein oder andere Länge. Ich hatte aber das Gefühl, dass das genau so passt, denn gerade Jasmijn hätte es in ihrem Perfektionismus sehr widerstrebt auch nur eine dieser Geschichten wegzulassen.


    Durch diese Lektüre habe ich das Gefühl Menschen mit dem Asperger-Syndrom besser zu verstehen. Da es viele unterschiedliche Ausprägungen gibt, ist mir durchaus bewusst, dass ich nur einen ungefähren Einblick in ihre Gedanken- und Gefühlswelt erhalten habe.


    Eine berührende und interessante Geschichte, die mich sicher noch einige Zeit beschäftigen wird.


    8 von 10 Eulen


    ASIN/ISBN: 3959673191

  • "Mein Leben als Sonntagskind" ist einer dieser Wälzer, bei denen man gar nicht merkt, wie die Seiten verfliegen, und sich am Ende wünscht, das Buch hätte noch ein paar hundert Seiten mehr. Der Leser begleitet die Protagonistin und Ich-Erzählerin Jasmijn durch ihre Kindheit und Jugend und sieht dabei die Welt durch ihre Augen. Und die scheint voller Probleme zu sein, die bereits in der Vorschule damit beginnen, dass Jasmijn mit fremden Kindern spielen soll, mit einer fremden Frau reden muss. Oft weiß sie sich dann nicht anders zu helfen, als davonzulaufen, und versteht nicht, warum ihre Eltern dann böse werden. Was Jasmijn glücklich macht, sind Tage am Strand, ihre Hünding Senta und Musik. Besonders die von Elvis. Und so vergehen die Jahre, in denen Jasmijn vor allem mit den zwischenmenschlichen Beziehungen hadert, da niemand sie zu verstehen scheint und sie genauso wenig versteht, was alle anderen von ihr wollen. Bis sie Elliot kennenlernt. Zwischen ihnen entwickelt sich eine ganz besondere Art von Beziehung und dabei macht Jasmijn es Elliot nicht immer leicht.


    Jasmijn wächst in den 80er und 90er Jahren auf, als noch nicht viel über die Krankheit Autismus bekannt war. Sie muss selbst lernen, zu verstehen, warum sie die Welt anders sieht als andere Menschen. Warum sie Panik bekommt, wenn es zu laut um sie herum ist, oder warum Gespräche mit anderen sie so sehr erschöpfen, dass sie Migräneanfälle bekommt. Besonders faszinierend finde ich, dass die Autorin selbst erst im Erwachsenenalter erfahren hat, dass sie das Asperger-Syndrom hat. Umso wundervoller gelingt es ihr, die Gefühlswelt ihrer Ich-Erzählerin zu beschreiben.


    Den Schreibstil empfand ich als ungemein fesselnd und lebendig, auch wenn er sehr geradlinig und direkt ist. Aber damit passt er nur umso besser zur Ich-Erzählerin und ich finde es sehr authentisch, wie die Autorin ihre Protagonistin zu Wort kommen lässt. Es entsteht ein sehr starker Sog und die Seiten fliegen nur so dahin. Für mich war es überaus spannend, in die Gedankenwelt der Ich-Erzählerin abzutauchen und die Welt durch ihre Augen zu sehen.


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