Verkleiden geht immer

  • Diese Geschichte ist als Beitrag für den letzten Schreibwettbewerb entstanden (Stichwort: "zeitlos"), die E-Mail, mit der ich ihn eingesandt hatte, aber irgendwo versackt. Ich hatte, als es mir aufgefallen ist, versprochen, die Geschichte noch nachzureichen, es dann aber doch verschlafen. Hier ist sie:


    Eigentlich hab ich Tante Thekla kaum gekannt. Genau genommen hat sie wohl niemand aus der Familie richtig gekannt. Sie war eine Schwester meines Großvaters, der schon lange nicht mehr lebt. Sie hatte keine Kinder, und meine Mutter ist die einzige Nichte. Deshalb ist ihr auch die Aufgabe zugefallen, jetzt, wo Tante Thekla gestorben ist, die Wohnung aufzulösen. Ein Mammutprojekt, wenn man nicht alles unbesehen in den Container schmeißen will, und dabei hat Tante Thekla gar nicht mal übermäßig viel Zeug gehortet.

    Mama ist dankbar für jede Hilfe, und genau deshalb hab ich mir heute meine beste Freundin gegriffen, um Sachen zu sortieren. Aktuell ist der üppig gefüllte Kleiderschrank dran; da wird eine ordentliche Fuhre zur Kleiderkammer gehen.

    Es fühlt sich komisch an, wenn man daran denkt, dass die Sachen vor gar nicht allzu langer Zeit von einem Menschen getragen wurden, der jetzt nicht mehr da ist. Ein bisschen komme ich mir vor wie ein Eindringling. Trotzdem kann ich mir nicht verkneifen, mir ein weinrotes Kleid anzuhalten und mir dazu ein buntes Tuch um den Hals zu legen. „Wie seh ich aus?“

    Nicky stutzt kurz, dann pfeift sie anerkennend und lacht. „Wenn du noch einen Strohhut aufsetzt, dann wie eine Dame beim Sonntagsspaziergang in den Zwanzigern“, behauptet sie.

    Einen Strohhut hab ich sogar gesehen, irgendwo oben im Schrank. Während ich ihn herauskrame und meine Kostümierung vervollständige, greift Nicky sich eine geblümte Bluse. „Und?“ „Total 68!“

    Plötzlich sind wir wieder sieben und feiern ein wildes Kostümfest. Damals haben wir das so oft gemacht, mindestens einmal die Woche. Wir wechseln von einer Verkleidung in die andere, posieren und machen ohne Ende Fotos. Ob Tante Thekla was dagegen hätte, dass wir das mit ihren Sachen machen? Ich glaube nicht, eigentlich müsste ihr doch gefallen, dass wir nicht einfach alles achtlos in die mitgebrachten Säcke stopfen, und ein paar hübsche Teile finden auf diese Weise sogar ohne Umweg über die Kleiderkammer einen neuen Liebhaber.

    „Das darfst du echt keinem erzählen!“, behauptet Nicky irgendwann. „Die halten uns ja für komplett bescheuert!“ Dann winkt sie ab und lacht. „Egal, verkleiden geht immer, oder?“