John Niven: Kill 'Em All

  • Overkill


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    Wer glaubt, die wirklich bösen Jungs wären in Mafia und ’Ndrangheta organisiert und würden ihr Geld mit Drogen, Menschenhandel, Schutzgelderpressung und Zwangsprostitution verdienen, der hat keine Ahnung von der absolut bösesten Industrie des Planeten, nämlich: der Musikindustrie. Jedenfalls, wenn man John Niven und seiner Lieblingsfigur Steven Stelfox glauben will.


    Der smarte, coole, gutaussehende und völlig skrupellose Stelfox kam schon zweimal in Büchern von John Niven vor, einmal als Hauptfigur in dessen beeindruckendem zweiten Roman „Kill Your Friends“ (2008), der Nivens internationalen Durchbruch markierte und als „American Psycho in lustig“ gehandelt wurde, und später dann als Nebenrolle in der Jesus-Persiflage „Gott bewahre“ (2011). „Kill Your Friends“, der Vorläufer von „Kill ‘Em All“, spielte in den späten Neunzigern.

    Jetzt schreiben wir das Jahr 2017. Donald J. Trump ist absurderweise zum Präsidenten der U.S. of A. gewählt worden und wird im Amt seiner Rolle gerecht, das Musikbusiness hat einige Turbulenzen hinter sich, aber aus diesen auch gelernt. Wer heutzutage das abschließt, was man früher als „Plattenvertrag“ bezeichnet hat, sollte das umfangreiche Kleingedruckte sehr, sehr genau lesen. Die Rechte, die sich die Companies sichern, sind - vorsichtig ausgedrückt - ziemlich weitreichend.


    Aber auch das hilft leider nicht, wenn der Superstar, der alle anderen mitfinanziert, seit Jahren nichts Neues mehr gemacht hat, dafür jedoch zwei Millionen Dollar im Monat verbraucht, unter anderem, um seinen persönlichen Vergnügungspark „Narnia“ zu finanzieren, vor allem aber, um Drogen und Medikamente zu bezahlen - und das Schweigen der Eltern zu erkaufen, die zwar fröhlich ihre jungen Kinder nach Narnia bringen, aber dann etwas überrascht sind, wenn der Zwölfjährige, der auf dem palastartigen Anwesen übernachten durfte, tags darauf von seltsamen nächtlichen Praktiken erzählt. Lucius Du Pre, so heißt dieser Superstar, ist inzwischen fünfzig Jahre alt und völlig verstrahlt. Eine Comeback-Tour ist angekündigt, Dutzende Termine in New York und London stehen bereits fest, aber Du Pre hat eigentlich keinen Bock auf Auftritte mehr. Er will nur seine „Milch“, den täglichen Drogencocktail vom Hausarzt Dr. Ali - und seine kleinen Jungs. Und er wäre, als Weißer geboren, gerne endlich schwarz, weshalb er seit Jahren schon mit Pigmenten, Operationen und allerlei Absurditäten experimentiert. Im Ergebnis sieht Du Pre aus, als hätte er mehrere äußerst böse Sonnenbrände hinter sich. Aber das ist nicht sein Hauptproblem. Das besteht aus einer prolligen Südstaatenfamilie, nämlich den Murphys, die ihrem Sohnemann eine Kamera mitgegeben haben, als er bei Du Pre „übernachten“ durfte. Die Kleinigkeit von 50 Millionen Dollar erwarten sie als Gegenleistung, wenn das Video vernichtet werden soll.


    Steven Stelfox alter Kumpel James Trellick, der Du Pres Label „Unigram“ führt, hat deshalb gleich mehrere Probleme auf einmal. Doch Stelfox, der eigentlich satt ist, aber nichts dagegen hätte, vom Multimillionär zum Milliardär aufzusteigen, hat einen Plan. Eigentlich sogar zwei. Von denen einer giftiger und absurder als der andere ist. Und wahrscheinlich gerade deshalb funktionieren wird.


    Die „bitterböse Satire auf das Musikbusiness“, die „Kill Your Friends“ war, ist in „Kill ‘Em All“ zu einer extrem bösen und leider extrem lustigen Gesellschaftsbetrachtung geworden. Steven Stelfox ist von all den Entwicklungen, deren vorläufigen Höhepunkt Trumps Wahl markiert, alles andere als überrascht - es erfreut ihn, und er ist nebenbei subversiv unterwegs, um den Hass, die omnipräsente Selbstentleibung, die maßfreien Tabubrüche, die Dummheit und Dreistigkeit noch anzufeuern. Später, als die Pläne für Lucius Du Pre in die Umsetzung gehen, bedient er sich dieser Werkzeuge, um den Vorgang sozusagen zu begleiten und ans Publikum zu verkaufen, denn gerade die treue Fangemeinde ist besonders anfällig für diese Einflüsse.

    Aber das gleichzeitig sehr absurde und auf absurde Weise sehr glaubhafte Geschehen um den pädophilen „Kaiser des Pop“, wie sich Du Pre selbst nennt, steht nicht im Vordergrund des Romans. „Kill ‘Em All“ ist in der Hauptsache eine Geschichte darüber, wie sich die gesellschaftliche Schere immer weiter öffnet, während wir hinnehmen, dass das kübelweise Übereinandermüllausschütten zur Selbstverständlichkeit wird, und dass die Schreier und Polterer und überwiegend intelligenzfreien „Influencer“ uns in eine Welt führen, in der Wissen, Wahrheit, Qualität und Qualifikation nichts mehr bedeuten, und Achtsamkeit oder andere Werte des Umgangs sowieso nicht.


    Steven Stelfox, der sich als Hauptfigur zuweilen wie ein Alter Ego des Autors anfühlt (was Nivens Absicht sein dürfte), nimmt kein Blatt vor den Mund - ganz im Gegenteil. Und was er sagt, das ist zutiefst rassistisch, frauenfeindlich, sexistisch, reaktionär, auf hemdsärmelige Weise elitär - und, leider, ziemlich klug. Nicht argumentativ klug, also in dem Sinne, dass man ihm inhaltlich zustimmen müsste, ganz im Gegenteil, sondern bezogen auf das Exemplarische. Stelfox steht für diejenigen, die davon profitieren, wie wir uns auf sozialer Ebene entwickeln, für die Leute, die das auszunutzen bereit sind, die es anfeuern und begeistert hinnehmen. Und auch noch irre viel Geld damit verdienen.


    „Kill ‘Em All“ strotz vor diesem Sarkasmus, ist äußerst rasant und sehr spannend erzählt, und baut gerade noch genug Distanz zu seinen realen Vorlagen auf, um nicht selbst wie die Ausgeburt eines abgedrehten Verschwörungstheoretikers zu klingen. Großartig gemacht, irre amüsant und so treffsicher wie eine moderne Lenkwaffe. Nivens bester Roman bisher.


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